Tatsachen und Erzählung

Tatsachen und Erzählung

Nele Wohlatz
26.11.2021 – 09.01.2022

Gibt man „Tiger“ in eine Internetsuchmaschine ein, so erscheint zuerst der Wikipedia-Artikel. Gleich danach folgt ein nach dem Raubtier benannter Panzer, dann diverse Unternehmen mit Tigernamen und an anderer Stelle ein Verweis auf die so genannten Tigerstaaten. Weiter unten finden sich Schlagzeilen über Privatzoos. Andere Schlagworte lauten: „vom Aussterben bedroht“ oder „gefährlich“. Tigern wird Macht zugeschrieben, sie werden gezähmt und gejagt, als mythische Figuren überhöht oder bekämpft und dienen in verschiedensten Kontexten als Projektionsfläche.

Die Filmemacherin Nele Wohlatz interessiert sich für das Aufeinandertreffen von Tieren und Menschen beim Proben für Spielfilme. Was sind die Voraussetzungen dafür, dass Tiger eine Rolle in einem Film ausführen können?  Sie hat den Alltag der Tigerinnen Minh und Indra verfolgt, die in Blockbuster-Filmen wie Life of Pi (Ang Lee, 2012)  oder Gladiatior (Ridley Scott, 2000) mitspielen. Dafür ist sie unter anderem nach Frankreich gereist, wo die beiden Tigerinnen zusammen mit anderen (Raub-)Tieren gehalten werden, die für Show und Film von Menschen trainiert werden – und dabei den Menschen jederzeit gefährlich werden könnten. 

Am Beginn der Ausstellung bekommen wir nur die Sprach- und Tonebene dieses Trainings mit: In der ersten Etage der Installation, die sich über drei Etagen des Kehrwiederturms erstreckt, hören wir die Stimme des Trainers und seiner Kollegin. Ihre Stimmen agieren ohne Unterbrechung und funktionieren dabei wie eine akustische Leine, an der die Tigerin durch die Manege läuft. Die Tigerin wird dazu angeleitet, hin- und herzulaufen, auf einem kleinen Podest stehenzubleiben, zurückgehen. Vergisst Indra in dieser Trainingssituation, dass sie eine Tigerin ist? Wie ist das Verhältnis zwischen den Akteur*innen? Indra, eine der beiden Tigerinnen, liegt in einem Käfig, sie scheint zu warten oder sich auszuruhen. Die Geräuschkulisse wird bestimmt vom Gezwitscher der kleinen Vögel, die um die Käfige herumflattern oder unter dem Dach sitzen und die sich diesen Ort als Lebensraum ausgesucht haben. In der letzten Etage der Ausstellung kann Minh, die andere Tigerin, beim Einschlafen beobachtet werden. Die Stimme des Trainers flüstert sie hypnotisch in den Schlaf. Doch schläft sie wirklich ein? Zwischendurch hebt sie den Kopf, ihr Blick in die Kamera scheint intensiv und direkt. Es ist leicht, ihr menschliche Eigenschaften zuzuschreiben. Was passiert hier abseits der Tatsache, dass es sich um ein Setting handelt, in dem der Trainer Dominanz ausübt? Unter welchen Bedingungen können die Tigerkörper eine fiktive Geschichte erzählen? Beobachten wir hier eine reine Zwangssituation oder auch etwas darüber hinaus, unsere eigenen Projektionen, eine wechselseitige Abhängigkeit zwischen unwahrscheinlichen Partner*innen? 

 

Donna Haraway schrieb 2016 ihr „Manifest für Gefährten“ über wechselseitige Beziehungen zwischen Menschen und Tieren und bezog sich dabei auf Tiere wie etwa Hunde, die von Menschen domestiziert wurden. Was würde Haraway über den Tigertrainer Thierry Le Portier und sein Team sagen, die mit Raubtieren wie Tigern arbeiten und leben? Also mit Tieren, die eher als Projektionsflächen und weniger als Gefährt*innen für Menschen gelten können. Auch wenn es sich in Nele Wohlatz’ filmischer Installation um dokumentarische Filmaufnahmen handelt, ist die Fiktion unserer Vorstellungskraft notwendig, um den beiden Tigerinnen nah zu kommen. In unserer Fähigkeit zur Projektion auf einen Tiger lauern, spätestens wenn er*sie uns direkt anschaut, all die kulturellen Aufladungen, die Erzählungen, mit denen die Figur des Tigers belegt ist. Der Titel der Ausstellung bezieht sich auf die Idee Donna Haraways, dass Tatsachen und Erzählung Tier-Mensch-Beziehungen bestimmen. Er ruft zur Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Dokumentarischem und Fiktion auf. Was ist Projektion und was nicht? Gibt es Spielräume in dem auf den ersten Blick eindeutigen Dominanz- und Machtverhältnis der Trainingssituation? Was verraten die Erzählungen uns über uns selbst?

Nele Wohlatz, geb. in Hannover, studierte Bildende Kunst und Literatur in Braunschweig sowie Szenografie, Medienkunst und Philosophie in Karlsruhe. Von 2009 bis 2019 lebte sie in Buenos Aires, Argentinien. Ihre Filme liefen auf internationalen Festivals wie Oberhausen, Rotterdam, Viennale, FIDMarseille, Mar del Plata, BAFICI und im MoMA. Ihr Film El futuro perfecto wurde unter anderem 2016 in Locarno mit dem Goldenen Leoparden für das beste Debut ausgezeichnet. 2020 war sie Stipendiatin in den Künstlerresidenzen Villa Aurora in Los Angeles. Sie unterrichtet Film an Hochschulen und in unabhängigen Kunstinstitutionen in Argentinien und Deutschland. 

 

Die Ausstellung wurde von Nora Brünger kuratiert und zusammen mit dem Ausstellungsteam durchgeführt.

Ausstellungsteam: Theresa Tolksdorf (kuratorische Assistenz), Maria Nesemann (Leitung Kunstvermittlung), Nina Toledano (Praktikum)
Ausstellungsaufbau: Lisa Kreis, Omar Zyami

Filmteam:
Tigertrainer*innen: Thierry Le Portier, Monique Angeon, Éléonore Costa
Kamera: Max Sänger
Ton & Sounddesign: Sebastian Schönfeld
Farbkorrektur: Jyrgen Ueberschär
Produktionsassistenz: Lucian Lee